Vom Elend auf Madagaskar und wie Kirche und Mission den Kindern der Ärmsten helfen

Warum gibt’s hier keine Straßenlaternen? Dunkle Gestalten, manche in Lumpen, eilen den Fahrweg entlang, kaum zu erkennen, beleuchtet nur von den Funzeln alter hupender Autos und Motorräder. Ich hätte auch keine Sandalen anziehen sollen, denke ich und stolpere weiter durch die Nacht von Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars. Seit dem Schlammloch hinter mir sind meine Füße feucht. Es ist knallheiß, ich schwitze. Müllcontainer versperren den Weg, es stinkt erbärmlich. Oben winden sich ungelenke Schatten, was ist das? Ein Laster brummt vorbei. Im Lichtstrahl blitzt das Weiß aus dutzenden Kinderaugen auf. Jugendliche und Kinder, auch kleine um die fünf Jahre, wühlen sich auf dem Container durch den Müll und suchen nach etwas Essbarem. Die Not trifft mich schon am ersten Abend mit voller Wucht auf unserer Tour durch den zweitgrößten Inselstaat der Welt.

Wir sind ein siebenköpfiges Team der Inter-Mission, unterwegs zu Hilfsprojekten unserer madagassischen Partner. Frühmorgens in Tana (Kurzname der Hauptstadt) wecken uns melodiöse Glockenspiele der Kirchen. Mit beinah der zweifachen Fläche Deutschlands ist Madagaskar landschaftlich und kulturell überraschend schön. Die 31 Millionen Einwohner sind freundlich, viele lächeln uns offen an. Man wähnt sich in Polynesien. Übersetzerin Misa klärt auf, dass die Bevölkerung Madagaskars tatsächlich im fünften Jahrhundert von der Südsee her eingewandert ist, erst später kamen Afrikaner und Araber dazu. Erstaunlich, dass Siedler damals mit ihren Auslegerkanus 5.000 Kilometer über den offenen Pazifik hierher gerudert sind. Noch heute bauen sie ihren Reis an wie in Indonesien. Die Terrassenfelder und traditionell eckigen Häuschen passen eher nach Asien als zu afrikanischen Rundhütten.

Einmal quer über eine der schönsten Inseln der Welt. ABER …

Wäre Madagaskar bloß nicht so arm! Der IWF listet die Insel im Südosten Afrikas als viertärmstes Land der Welt. Mit dem gemieteten Kleinbus fahren wir zu unseren Projektstandorten: 1.300 Kilometer, um Not zu lindern. Zunächst nach Süden, dann quer über die Insel vom indischen Ozean an die Straße von Mosambik. Was in Deutschland zwölf Stunden dauert, bedeutet in Madagaskar Tage. Die ersten 260 Kilometer schlingern wir neun Stunden mit kurzen Pausen die Nationalstraße entlang; viele Feldwege in Europa sind besser. Wir halten uns mit Singen und Worship bei Laune, unseren Rhythmus geben die Löcher im Asphalt vor. Erschlagen kommen wir mit Einbruch der Dunkelheit in Fianarantsoa („wo man das Gute lernt“) an. Die „Massage“ im Auto, das fremdartige Essen und die mangelnde Trinkwasserqualität sorgen für erste Klagen über Bauchweh und Durchfall in unserer Gruppe. Es ist eine Strapaze.

Fianara ist der Kurzname der Stadt mit einer wichtigen Universität. Madagassen nutzen Spitznamen, weil sie selber ihre vielen Vokale nicht immer alle aussprechen wollen. Das Projekt hier heißt Manasoa (gute Entwicklung), der Name ist Programm. Leiterin Tahiry, eine engagierte 38-jährige Theologin, zeigt uns ihre Ausbildungs-Schreinerei. Lautstark demonstrieren fünf Auszubildende die neuen Hobelmaschinen und Sägen, die ihnen die Inter-Mission finanziert hat. Tahirys Mann Richard ist Schreiner, er bildet sie aus. Sie wollen die Schreinerei vergrößern, um mehr Jugendlichen aus armen Verhältnissen zu helfen. Drei Viertel der Stadt sind arbeitslos und viele kämpfen als Tagelöhner ums Überleben. Und das in einer Universitätsstadt! Wir besuchen Single-Mütter mit drei und mehr Kindern. Ein Bild des Elends, ihre winzigen Ein-Zimmer-Verschläge und ausgemergelten Körper. Fassungslos macht, dass die Mamas für solche Löcher auch noch Miete zahlen. Zum Projekt soll ein Frauenhaus dazukommen, um alleinstehende Mütter mit Kindern in würdigeren Verhältnissen unterzubringen. Einige der Witwen, Teenager- und Single-Mamas erhalten auch eine Ausbildung: Sticken, Schneidern und Korbmachen. Dazu Schulgeld für ihre Kinder, Medizin und Essen. Ermutigend, wie das Team von Manasoa Menschen mit Gottes Liebe beschenkt. Sie sind gut aufgestellt, ein Sozialarbeiter und eine Hebamme gehören dazu. Die junge Geburtshelferin erklärt, dass im Elendsviertel nur ein Drittel der Babys das erste Jahr überlebt. Ihr Einsatz rettet Leben!

Ahnenkult und Tabus bestimmen die Insel

Auf einer „Snakeroad“ fahren wir in Schlangenlinie Kurve um Kurve übers Gebirge, während Übersetzerin Misa uns die religiösen Verhältnisse erklärt: Madagaskar ist oberflächlich christlich geprägt, nominell sind es um die 50 Prozent der Bevölkerung. Lutherische und römisch-katholische Kirchengebäude dominieren viele Dörfer und Städte. Eher selten sehen wir Moscheen. In Wahrheit jedoch sucht die Bevölkerung ihre spirituelle Hilfe viel im Ahnenkult. Verstorbene gehören wie Lebende zur Familie, werden manchmal sogar befragt und in den Alltag einbezogen. Am wichtigsten ist den 18 Völkern der Insel das Ritual der „Totenumbettung“. Viele Familien gehen nachts ans Familiengrab und feiern ein rauschendes Fest. Sie entnehmen die Gebeine kürzlich Verstorbener, hüllen sie in Seidenkleider, dazu gibt es Rituale, Essen und Alkohol, bevor der Tote in der Morgendämmerung wieder zur Ruhe gebettet wird. Selbst viele Christen halten an okkulten Praktiken fest, erklärt Misa, als wir über eine baufällige Brücke rumpeln. Es fehlen Blechplatten in der Fahrbahn, zehn Meter unter uns ist der Fluss. Fahrer Valerio steuert sicher ans andere Ufer. Ahnenreligion und Schamanen haben mächtigen Einfluss, fährt Misa fort, das Einhalten von Tabus unterschiedlichster Art, das „Fady“, ist wichtig. In Kirchen fehlen oft biblische Lehre und die klare Abkehr vom Ahnenkult. Angst vor Flüchen treibt die Menschen um: Beispielsweise gilt der Dienstag als verflucht. Kaum jemand würde dienstags etwas Wichtiges tun.

Hungerhilfe und Medizin für die Ärmsten

Wir kommen in Manakara am Indischen Ozean an, dessen Wellen und Palmenstrand uns begeistern. Aber als wir Familien in einfacheren Quartieren dieser Stadt besuchen, kommen unserer jungen Krankenschwester die Tränen. So viele Kinder mit offenen Wunden und Entzündungen, Füße zerfressen von Sandwürmern. Manche der Wunden sind nekrotisch, schrecklich. Ein Kind hat sich die Hand verbrüht, die Finger verkrampft zur Faust. Ein Bub zeigt seine eiternde Narbe am Bein. Im nächsten Haus ein Junge, dessen Bauch übersäht ist mit Wunden. „Gibt es in Gilead keine Salben mehr, ist kein Arzt zu finden?“ Jeremia 8,22 aus der Bibel kommt mir in den Sinn. Eine staatliche Gesundheitsfürsorge für die Millionen Armen gibt es nicht. Wir sind geschockt. Die Kinder von Manakara brauchen Wund- und Heilsalbe, auch Salbe für die Seele. Am Abend fällt unsere Entscheidung für eine Soforthilfe! Wir statten die örtliche Gemeinde „Flamme de Dieu“ (Flamme Gottes) mit den nötigen Finanzen aus, damit sie die nächsten Monate den Kindern der Ärmsten Arztbesuche und Medizin ermöglichen können. Sie beginnen schon am nächsten Tag mit der Behandlung, während wir Bettlern der Stadt und 40 Kindern in einem armen Fischerdorf Essen austeilen. Den Menschen sieht man den Hunger an, sogar die Pastoren und Mitarbeiter der kleinen Kirche haben anfänglich gehungert, als sie ihre Arbeit in dieser Stadt begannen.

Ihr Gottesdienst sonntags dagegen ist Freude pur. Im Himmel werden sicher eines Tages Madagassen für den Worship zuständig sein. Solche Glaubensfreude trotz Armut! Beim Opfer kommt eine der Witwen, die wir besucht haben, an den Altar und stellt eine Schüssel Essen für die Mitarbeiter hin. Wir beschenken Bettler und Hungernde mit Nahrung und sie schenkt einen Teil davon den Mitarbeitern weiter? Wow. Chor und Pastoren stimmen tanzend und strahlend den Song „Nous avons la joie de Jésus“ an. Kinder und Erwachsene stimmen ein und zeigen, dass sie wirklich Freude von Jesus haben, wie es im Refrain heißt. Kaum Essen, nur ein armseliges Zuhause – aber sie haben Freude! Spürbar.

Neben der unaussprechlichen Not, die uns zum Handeln bewegt, beeindruckt uns die landschaftliche Schönheit der riesigen Insel am südlichen Wendekreis. Alle 50 Kilometer wandelt die Landschaft ihr Gesicht, als käme man von einem Land in ein anderes: Der gewaltige indische Ozean mit Sandstrand und Wellen, landeinwärts beschauliche Hügel, dann Berge bis 2.600 Meter Höhe, manche Gegenden tatsächlich noch überwuchert mit Regenwald voll großer Farnbäume, Fächerpalmen und riesiger Wasserfälle. Dahinter beschauliche Kulturlandschaften mit Häuschen und Terrassenfeldern, wo Reis heranreift. Später rotbraune, riesige Felsen, gefolgt von Buschland mit Baobab-Bäumen, Savanne und dann, im Süden, nur noch knochentrockene, dornige Halbwüste. Überwältigend, die Schönheit der Schöpfung.

Mittendrin liegt die Hölle: die Stadt der Saphire, Ilakaka

60.000 Menschen haben sich seit 1999 dort angesiedelt, viele von ihnen buddeln heute noch mit bloßen Händen bis zu 30 Meter tiefe Löcher in die Erde. Der Aushub wird im Fluss von Kindern und Erwachsenen ausgewaschen, um Edelsteine herauszufiltern. Hier gibt es Saphire in allen Farben. Die Kinderarbeit und Sklaverei live zu erleben, durch die die Juwelen ans Tageslicht kommen, macht sprachlos. Die Kriminalität in der Stadt ist hoch, Männer mit Kalaschnikows patrouillieren die Straßen. Es gibt Prostitution und Kasinos, Überfälle und Diebstahl. Dennoch ist die Situation heute um Vieles besser als vor 20 Jahren, denn bei den Aufkäufern der Edelsteine gilt die Hochzeit der Ausbeute als vorüber, viele von ihnen sind samt ihren Gangs wieder verschwunden.

„Flamme de Dieu“ hat dort seit gut 15 Jahren eine christliche Gemeinde und nun auch zusammen mit der Inter-Mission ein Hilfsprojekt für die Kinder gestartet. Sie kommen zumeist aus Familien ehemaliger Minenarbeiter, die heute nach anderen Einkunftsmöglichkeiten suchen. Im Hof der Gemeinde bekommen 40 bis 50 Kinder jeden Werktag Essen: Reis, Gemüse, ab und zu Fleisch und Früchte. Sie bringen den Kindern wenigstens Lesen und Schreiben bei, weil viele von ihnen nicht zur Schule gehen, dazu bekommen sie ein kindgerechtes geistliches Programm mit Andacht, Singen, Spiel und Spaß. Was für ein Unterschied zum gewalttätigen Leben der Saphirstadt.

Vor der Stadt sieht der Boden über Kilometer aus wie ein Emmentaler Käse. Die Minen, meterbreite Löcher, folgen einem unterirdischen früheren Flusslauf, in dem sich die Edelsteine abgelagert haben. Aus einem der Löcher lugt plötzlich eine gelbe Mütze hervor. Der mit hellbraunem Staub überzogene junge Bergmann klettert heraus. Stolz zeigt er seine paar Edelsteine, die er heute gefunden hat. Er trägt zerrissene Kleidung, ist barfuß und hat ein freundliches Gesicht. Als er die bunten Steine wieder ins Tütchen packen will, zittern seine Hände so sehr von der harten Arbeit, dass es ihm erst beim dritten Versuch gelingt. Er erklärt, dass er hier sein eigenes Grab schaufelt. Die Löcher sind tief und nicht gesichert. Wenn ein Schacht einbricht, holt niemand den Verschütteten heraus, das wäre viel zu gefährlich. Manche bleiben für immer da unten; früher waren es vier bis fünf Männer pro Woche!

Müde kommen wir in Tulear an der Küste an. Der Südwesten Madagaskars ist seit Jahren so trocken, dass kaum mehr etwas wächst. Die Menschen hungern. Unsere Partner gehen ins Kere-Gebiet – so heißt diese Landschaft – hinaus und verteilen Nahrung in den Dörfern, immer dann, wenn sie die dafür nötigen Finanzen gespendet bekommen. An einem Ort helfen wir heute eigenhändig beim Verteilen der Säcke mit Reis, Linsen, Mais, Pflanzenöl und Seife an 100 notleidende Familien. Ein Bild des Elends, die spindeldürren Männer und Frauen stehen brav in der Reihe und lassen sich das wertvolle Gut von uns in Tücher, Körbe, alte Flaschen und Behältnisse aller Art schütten. Am Ende beten wir mit ihnen …

Ausbildung, damit junge Männer eine Zukunft haben …

Zurück in der Hafenstadt Tulear zeigte Pastor Armand uns die Autowerkstatt in seinem Hinterhof. Er bildet junge Männer, die auf der Straße lebten, zu Mechanikern aus und nimmt sie in dieser Zeit bei sich auf. Im Moment reparieren sie einen Renault 4, die gibt es hier noch viel, und einen Kleinbus. Danach helfen wir bei der Kinderspeisung mit, wo 120 Kinder aus den ärmsten Haushalten zweimal wöchentlich ihren Teller Reis, Gemüse und Fleisch bekommen. Der bunte Blumenstrauß an Hilfeleistungen unserer Partner begeistert.

Zurück in der Hafenstadt Tulear zeigte Pastor Armand uns die Autowerkstatt in seinem Hinterhof. Er bildet junge Männer, die auf der Straße lebten, zu Mechanikern aus und nimmt sie in dieser Zeit bei sich auf. Im Moment reparieren sie einen Renault 4, die gibt es hier noch viel, und einen Kleinbus. Danach helfen wir bei der Kinderspeisung mit, wo 120 Kinder aus den ärmsten Haushalten zweimal wöchentlich ihren Teller Reis, Gemüse und Fleisch bekommen. Der bunte Blumenstrauß an Hilfeleistungen unserer Partner begeistert.

Am eindrücklichsten bleibt mir das Waisenheim für 30 ehemalige Straßenkinder von sechs bis zehn Jahren neben Armands Kirche in Erinnerung, das die Inter-Mission mit persönlichen Patenschaften für die Kinder fördert. Sechs Mitarbeiter sorgen wöchentlich abwechselnd dafür, dass es den Kindern gut geht. Sie gehen zur Schule, haben Essen und sogar einen kleinen Spielplatz. Die Schaukeln haben Armands Auszubildende geschweißt. Lachend spielen die Kinder mit uns Fangen, Basket- und Fußball. Dabei fällt mir der Müllcontainer in Antananarivo vom Beginn unserer Reise wieder ein. Das trostlose Bild der Not. Einige der Kleinen, mit denen wir hier in Tulear spielen, haben früher auch mal im Abfall nach Nahrung gesucht. Heute haben sie ein liebevolles Zuhause.

Ein Bericht von
Theo Volland

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