Weibliche Genitalverstümmelung in Sierra Leone bekämpfen. Schutz für Mädchen und Frauen!

Für mich ein unvorstellbarer Gedanke: Mädchen im Kindesalter ohne Narkose die Schamlippen und Klitoris zu beschneiden. Gestern bekam ich per WhatsApp Videos, die den Eingriff zeigen. Ein erbärmlich schreiendes Mädchen wird von starken Frauenhänden gehalten, die Schenkel auseinander gedrückt. Als sich die Sowei (Beschneiderin) dem Genitalbereich mit dem Messer nähert, stoppe ich. Unerträglich für mich, das anzusehen. 

Sierra Leone gehört zu den wenigen Ländern, in denen weibliche Genitalverstümmelung (engl. Female Genital Mutilation, kurz FGM) flächendeckend verbreitet ist. Man schätzt einen Anteil von 90%. Während ich diese Zeilen schreibe, führe ich im Land selbst viele Gespräche zum Thema. Mit Sierra-Leonern und Europäern. Mit Gegnern und Befürwortern. Und mit solchen, die sich nicht sicher sind. So wie ein guter Freund, der seine Haltung mit 70 zu 30 zusammenfasst. Nicht so eindeutig, wie ich vermutet hätte. Wahrscheinlich zu etwas mehr als 70% sei er dagegen, sagt er im Laufe unseres Gespräches. Bei vielen anderen Sierra-Leonern sind die kritischen Anteile längst nicht so hoch. Er erzählt mir von einer Demonstration pro FGM. Eine Gruppe von etwa 200 Frauen marschierte zum WHO Sitz in Freetown, um sehr vehement für den Erhalt der Praxis einzutreten. Sogar Ärzte aus Europa waren unter den aufgebrachten Demonstranten. Der Kampf besteht nicht in einer aufgezwungenen Veränderung von außen, sondern in einer Änderung der Überzeugungen. Einfach ist das nicht, denn die Bondo Society, in deren Rahmen die Beschneidung als Initialisierungsritus ausgeführt wird, spielt eine große Rolle in der Gesellschaft. Wer nicht dazugehört, erfährt keine soziale Akzeptanz. Ohne Beschneidung fürchten die Mütter, keine Ehemänner für ihre Töchter zu finden. 

Wenn ich die kontroversen Diskussionen in manchen Facebook-Posts verfolge, stelle ich fest, dass einige Sierra-Leoner ernsthaft um den Erhalt ihrer kulturellen Identität besorgt sind. Oder in der Beschneidung lediglich einen kosmetischen Eingriff sehen. Daneben halten sich auch abstruse Gründe: die Klitoris müsse beschnitten werden, weil sie sonst weiterwächst, bis sie den Boden erreicht. Eine langjährige Bekannte erzählt von einem Fall aus der Verwandtschaft, in der ein volljähriges Mädchen sich entschied, die Beschneidung nachzuholen. Der Grund? Sie wollte in der Schule und bei ihren Freundinnen nicht mehr außen vorgelassen und gehänselt werden. Sie wollte dazugehören. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man die Mädchen nicht zwänge, sich dem Ritus im Kindesalter auszusetzen. 

Viele gehen ohne Vorahnung in den Busch - in freudiger Erwartung. Einige kommen traumatisiert zurück. Manche gar nicht, weil sie verbluten. Jemand erzählt mir, dass die Beschneidung in immer jüngeren Jahren vorgenommen wird, weil man befürchtet, geänderte Gesetze könnten die Praxis in Zukunft erschweren. Bereits jetzt sind 30% der Mädchen unter 10 Jahre alt. Bei aller gebotenen Sensibilität, mit der wir die FGM-Befürworter ernst nehmen, stellen wir Gelder für ein Projekt zur Verfügung, das Umschulungen für die Soweis und Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen der Genitalverstümmelung vorsieht. Joan Kamara, Leiterin unserer Partnerorganisation und selbst Betroffene, bat uns darum. 

Sie sagt: „Wir glauben, dass der Körper der Frau, so wie Gott ihn geschaffen hat, gut ist. Da muss nichts entfernt werden“. In diesen Tagen haben wir eine Basis-Studie in Auftrag gegeben, um das Projekt gründlich vorzubereiten. Die eigentliche Arbeit werden wir im Laufe des Jahres in drei Dörfern beginnen. Wir hoffen jedoch, mit den daraus gewonnenen Erfahrungen das Projekt auf andere Landesteile ausweiten und zunehmend Veränderungen im Denken der Menschen bewirken zu können.

Autor: Michael Miezal