Die Senioren-Oase: Ankommen, Ausruhen, Auftanken

Projekt gegen Altersarmut in Hannover

Wenn ich heute durch die Straßen von Hannover gehe, sehe ich häufig Menschen, die Papierkörbe und Mülleimer durchsuchen. Diese Pfandsammler sind auf der Suche nach Recycling-Flaschen oder Essensresten. Viele von ihnen sind im Rentenalter. Auch in den Medien werden wir mit dem Thema Altersarmut konfrontiert. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (Basis Mikrozensus) lag im Jahr 2017 der Anteil der Bevölkerung, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen ist bei den über 65-Jährigen bei 17,7 Prozent; Tendenz: Steigend!

Die Nachrichten und Geschichten machen uns zunächst betroffen, geraten dann aber in der Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft wieder in Vergessenheit. In meiner Arbeit werde ich täglich mit diesem Problem konfrontiert. Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet und zu wenig verdient haben, Frauen die zu Hause Kinder erzogen und als Witwen nicht genug Rente zum Leben haben. Diese Geschichten höre ich in der Begegnung mit Menschen, die zu mir in die Senioren-Oase in das Rathaus Linden kommen. 

Jeden Morgen pünktlich um 8 Uhr kommen Linda und Helga (Namen geändert) in die Oase. Die zwei Lindener Damen (etwa 80 Jahre alt) trinken zwei Tassen Kaffee und essen ihr Frühstück, welches ich für den Kostenbeitrag von 0,50 Euro anbiete. Wir unterhalten uns oft angeregt, aber um spätestens 9 Uhr verschwinden die beiden wieder. Aus Angst an dem belebten Ort im Rathaus von Nachbarn oder Freunden gesehen zu werden, machen sie sich sehr schnell wieder auf den Heimweg. Sie wollen von ihrem sozialen Umfeld nicht als bedürftig wahrgenommen werden. Im Umgang mit ihnen erlebe ich Scham, die Menschen dieser Generation empfinden, wenn sie auf andere angewiesen sind. Hier ist ein sensibler und individueller Umgang mit den einzelnen Gästen von großer Bedeutung. 

Ein weiterer regelmäßiger Gast ist Peter. Der gelernte Elektriker ist 20 Jahre zur See gefahren, kehrte aber zurück in seine Heimat, nachdem seine Frau erkrankt war. Seine Frau verstarb nach einiger Zeit und Peter fiel in ein tiefes emotionales Loch. Inzwischen hat er keinen festen Wohnsitz mehr, sondern zieht mit der Eisenbahn durchs Land. Er ist durch einen Unfall schwerbehindert und darf mit seinem Ausweis die öffentlichen Verkehrsmittel in Deutschland kostenlos nutzen. Er nutzt seine Zugfahrten zum Schlafen, aber auch um seinen Freund in Berlin jede Woche zum gemeinsamen Kartenspiel zu treffen. Wenn er gerade nicht unterwegs ist, kehrt er bei mir ein und ist inzwischen ein gern gesehener Stammgast.

Neben den regelmäßigen Gästen nutzen einige Senioren die Oase als Anlaufstelle. So kam an einem Morgen ein sehr aufgelöster älterer Herr zu uns. Die Hausmeister des Rathauses hatten ihn zu mir geschickt. Seine Frau war vor einigen Tagen verstorben und nun fühlte er sich von den Fragen und Aufgaben des Alltags überfordert. Da seine Frau sich in den letzten Jahren um vieles gekümmert hatte, stand er nun allein und hilflos vor mir. Ich hörte ihm zu und begleitete ihn zum Senioren-Service. Dort erhielt er die notwendige Unterstützung und kommt seit diesem Morgen auch öfter zum Frühstück zu mir.

Die Senioren-Oase bietet Rentnern eine Anlaufstelle, zu der sie mit all ihren Erfahrungen, Sorgen und Geschichten kommen können. Diese Situation beschreibt Jesaja sehr treffend in Kapitel 42,3: „Das geknickte Rohr wird er nicht abbrechen und den glimmenden Docht nicht löschen. Unbeirrbar setzt er sich für das Recht ein.“

Viele Senioren kommen entmutigt, einsam und ohne Hoffnung in die Senioren-Oase, wie ein geknicktes Rohr oder ein glimmender Docht. Die ersten Begegnungen sind dadurch oft sehr zaghaft und zurückhaltend, aber durch das regelmäßige Angebot, ermutigende Worte, kurze Andachten und die offene Tür für jeden wächst Vertrauen und Wertschätzung. Ich erlebe wie Gott auf diese Weise in das Leben meiner Gäste eingreift und sie mit neuer Hoffnung und einem Lächeln im Gesicht die Senioren- Oase verlassen. Hier sind sie an einem Ort, an dem sie gesehen werden.

Autor: Siegried Grunick